28. Juni 2014

Hungerlöhne – Niedriglöhne – Mindestlöhne: Die Deutschen dackeln hinterher

Work-watch veröffentlicht in den nächsten Tagen eine Serie zum Mindestlohn von Laurent Joachim1. Sie wird sich besonders mit dem jahrelangen zähen Ringen um dieses Instrument der Armutsbekämpfung befassen. Der historische Rückblick und die Auseinandersetzung mit den bis heute wirkungsmächtigen Argumenten der Gegner macht erkennbar, warum das ab Anfang Juli im Bundestag zur Beschlussfassung vorliegende Gesetzespaket noch kein Durchbruch, sondern ein schlechter Kompromiss ist. Das zeigt schon die Höhe des künftigen Mindestlohns, der bei den bekannten 8,50 Euro liegt. Zu dieser Zahl und zur Serie von Laurent Joachim einige einleitende Bemerkungen von Albrecht Kieser.

 

Der zwischen CDU, CSU und SPD vereinbarte Koalitionsvertrag2 für die 18. Legislaturperiode trägt den Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“. Auf Seite 68 heißt es über den ausgehandelten Mindestlohn: „Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt“.

Heute wissen wir: Zum 1. Januar 2015 wird nicht jeder Beschäftigte in der Bundesrepublik diesen Betrag erhalten, der Anschluss Deutschlands an die Festlegung gesetzlicher Mindestlöhne in Europa wird also weiter aufgeschoben. „Abweichungen bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene“ sind weiterhin möglich. Bis dahin können niedrigere Tarifabschlüsse den Mindestlohn unterlaufen.

Allein 2013 wurden für 16 Millionen Beschäftigte solche Tarifverträge mit Stundenlöhnen unter 8,50 Euro vereinbart. Ihre Laufzeit beträgt häufig zwei Jahre und mehr, sie verhindern also, dass die Betroffenen bereits 2015 den offiziellen Mindestlohn von 8,50 Euro erhalten. Eine Floristin in Brandenburg erhält laut Tarif nur 4,58 Euro, in der Gastronomie Mecklenburg-Vorpommerns liegt der Stundenlohn bei 6,62 Euro. Im Fleischerhandwerk in Ost-Berlin kommt die unterste Lohngruppe auf 6,09 Euro. Saisonarbeiter in der baden-württembergischen Landwirtschaft erhalten 6,40 Euro, Beschäftigte im schleswig-holsteinischen Einzelhandel 7,50 Euro.3 Spätestens 2017 kommt dann auch für diese Beschäftigten der Sprung auf 8,50 Euro. Keine Frage: ein großer Sprung für gebeutelte 4,58 Euro-Verdiener. Aber ist dann endlich Ende mit Armut?

8,50 Euro – eine längst durchbrochene Armutsbarriere

Die Forderung nach einem Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro wurde vom DGB 2010 gestellt4. Angesichts der in der Zwischenzeit um mindestens 15 Prozent gestiegenen Verbraucherpreise ist klar, dass dieser Betrag zum 1. Januar 2017, sieben Jahre später, die Menschen nicht aus der Armut befreien kann. Der damals schon knapp bemessene Mindestlohn müsste heute schon aus diesem Grund etwa 10 Euro betragen.

Mindestens. Denn schon 2013, zum Beispiel in München, wo die Mieten hoch sind, hätte der Stundenlohn in einem Einzel-Haushalt nicht unter 9,66 Euro liegen dürfen, um auf das Grundsicherungsniveau zu kommen, das durch die Hartz-IV-Regelungen als (von den Sozialverbänden als zu niedrig kritisierte) Armutsgrenze definiert ist5. In anderen Großstädten, wie Frankfurt am Main, Köln oder Hamburg gilt das ähnlich.

Der im Koalitionsvertrag ausgehandelte Mindestlohn ist an dieser Realität gemessen eine Mogelpackung: es steht zwar „Mindestlohn“ drauf, aber drin ist in Wahrheit weniger Hartgeld und stattdessen mehr Luft. Wer als Lediger bereits heute 8,50 Euro für eine Vollzeitstelle erhält, liegt am Monatsende exakt auf Hartz-IV-Niveau. Der sogenannte monatliche Regelsatz von 391 Euro, die Miet- und Heizungskosten und der Erwerbstätigen-Freibetrag brächten ihm dasselbe Einkommen. Arm ohne Arbeit und Arm durch Arbeit bleiben zwei traurige Geschwister, bloß erspart sich der, der arbeitet, die Demütigen auf dem Amt.

8,50 Euro fixieren Beschäftigte in der Armutsfalle

Die Hartz-IV-Armut ist ja ohnehin eine willkürlich festgelegt Größe. Armutsdefinitionen gibt es auch andere. Die EU-Sozialcharta bezeichnet jemanden als arm, der weniger als 60 Prozent des Durchschnittslohn in seinem Land verdient. Danach müsste in Deutschland ein Mindestlohn von knapp 12 Euro eingeführt werden, alles darunter wäre Armut. Selbst die deutsche Armutsdefinition der Sozialpolitik (nicht der Hartz IV-Strategen) würde erst jemanden nicht mehr als arm bezeichnen, der knapp 11 Euro pro Stunde verdient6:

Diese Hinweise hat bereits 2011 die Hans-Böckler-Stiftung gegeben und sie unterstreichen, dass ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde Arbeitnehmer mit einer Vollzeitstelle auf Hartz-IV-Armutsniveau fixiert. Wer weniger als Vollzeit arbeitet, ist weiterhin auf staatliche Unterstützung angewiesen. Teilzeitler zu Mindestlohnbedingungen werden also auch künftig nicht von ihrer eigenen Arbeit leben können.

Der „positive“ Effekt der 8,50 Euro: der Staat wird an arme Vollzeitler keine steuerfinanzierten Hartz-IV Aufstockungsleistungen mehr überweisen müssen. Der entsprechende Rückgang an Niedriglohn-Subventionen7 wird die Staatskasse entlasten. Diesen bisherigen staatlichen Aufstockungsanteil müssen künftig die Unternehmen zahlen – durch den verordneten Mindestlohn. Für die Mindestlohn-Vollzeitler ändert sich nichts in ihrem Geldbeutel. Was sie bisher vom Jobcenter drauf bekamen, erhalten sie jetzt von ihrem Arbeitgeber. So oder so bleibt es zu wenig.

Die Arbeitgeber-Verbände sowie Arbeitgeber freundliche Forschungsinstitutionen habe jahrelang Stimmung gegen die Einführung eines Mindestlohns gemacht. Sie wollen, dass auch Vollzeitler auf Mindestlohnniveau weiterhin vom Staat subventioniert werden. Noch im September 2013 meinte das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), ein Mindestlohn von 7,00 Euro sei ausreichend8. Je mehr staatlichen Lohnsubvention, umso profitabler, ist ihre Rechnung.

Da liegt künftig die Latte etwas höher. Leider nur muss befürchtet werden, dass künftig noch mehr Unternehmen ihre Mindestlohnverpflichtung unterlaufen: Wie die Praxis in den bisher schon von Mindestlöhnen „geschützten“ Branchen zeigt (z.B. Reinigungsindustrie und Baugewerbe), arbeiten Hunderttausende dort offiziell nur die Hälfte bis zwei Drittel ihrer tatsächlichen Arbeitszeit. Formal zum Mindestlohn. Wenn sie allerdings die unbezahlten Arbeitszeiten einrechnen, entpuppt dieser Mindestlohn sich als Papiertiger und sie landen doch wieder zwei, drei Euro darunter. Nur selten werden Unternehmen deswegen belangt und verurteilt.

Die Bundesregierung ist den Unternehmern mit dem Uralt-Mindestlohn von 8,50 Euro weit entgegen gekommen. Sie fixiert mit diesem viel zu niedrigen Satz die Niedriglöhner auf Hartz-IV-Niveau – trotz Arbeit. Und eine echte Aufstockung der Kontrollen und eine Ankündigung, künftig auch mit dem Strafrecht scharf gegen die Betrüger aus dem Unternehmerlager durchzugreifen, fehlt bislang. Das lässt nicht wirklich etwas Gutes erwarten.

1Laurent Joachim schreibt für das Buch von work-watch „Die Lastenträger“ (https://www.work-watch.de/2014/05/die-lastentraeger-das-buch-von-work-watch/) über unterbezahlte Lehrer, Journalisten u.a. und publiziert demnächst sein Buch „Friss oder Hartz – Wie Hungerlöhne unsere Gesellschaft zerstören“.

7 Diese staatlichen Ausgaben sind als Subvention an die Privatwirtschaft zu verstehen, weil der Staat über die Redistribution dieser Steuermasse beim Vermögensaufbau von Privatfirmen unterstützend mitwirkt.