(gk) Jede zweite Brille in Deutschland ist von Fielmann. Der Konzern produziert nicht im Ausland, sondern im brandenburgischen Rathenow. 3,5 Millionen Brillen allein im letzten Jahr. Innerhalb von zwei Tagen, so das Versprechen an die Kunden, wird die neue Brille geliefert: Modische Modelle für wenig Geld. Andere Brillenhersteller können da kaum mithalten: Fielmann ist der unumstrittene Marktführer und hat nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Schweiz, Österreich und Italien Filialen.
Nach einem Rekordumsatz in 2014 hat die Aktiengesellschaft mehr als 134 Millionen Euro Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet. Kommt das Erfolgsmodell auch den knapp 17.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu Gute? Fielmann, so heißt es immerhin im aktuellen Geschäftsbericht, betreibe eine „familienfreundliche Mitarbeiterpolitik“ und habe Beschäftigte über Mitarbeiteraktien am Gewinn beteiligt.
Viele der 1000 Beschäftigten des Produktions- und Logistikzentrums der hundertprozentigen Konzerntochter Rathenower Optische Werke, einem Betrieb ohne Tarifbindung, teilen diese Sicht nicht: Sie klagen über befristete Arbeitsverträge, kurzfristig anberaumte Überstunden, schlechte Bezahlung auf Mindestlohnniveau, hohen Arbeitsdruck und eine Betriebsatmosphäre, die von Angst geprägt ist. In der Montage werden zum Beispiel Stückzahllisten und „Bruchlisten“ über defekte Brillen geführt. Sogenannten „Minderleistern“ – also denen, die ihre Vorgaben nicht erfüllen – droht dann ein Gespräch mit dem Vorgesetzten.
Vor allem die überbordende Arbeitszeit – manchmal mehr als 50 Stunden in der Woche – führte zur Unzufriedenheit in der Belegschaft. Festgelegt war die Arbeitszeitregelung in der Betriebsvereinbarung (BV) von 1997, die work-watch vorliegt: „Obergrenze der regelmäßigen Arbeitszeit sind 50 Stunden die Woche, zehn Stunden am Tag. In Ausnahmefällen kann die Verteilung der Arbeitszeit auf sechs Tage erfolgen.“ Die Ankündigungsfrist für Mehrarbeit beträgt eigentlich drei Tage. „Aus dringenden betrieblichen Gründen“, so schränkt die Vereinbarung ein, „ist im Ausnahmefall auch eine kürzere Ankündigungsfrist zulässig.“ Die Ausnahmeregelung sei häufig zur Anwendung gekommen, lautet der Vorwurf. Sehr zum Leidwesen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter: Wenn die Betriebsleitung Freitags mitteilt, wer Samstags Überstunden leisten muss, ist eine Familien- und Freizeitplanung zum Scheitern verurteilt. Unter solchen Bedingungen, die unweigerlich zu Stress und unnötiger Belastung führen, ist es kaum verwunderlich, dass vor allem unter den etwa 500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Brillenfertigung mehr als zehn Prozent Krankenstand die Regel ist. Lars Buchholz, der zuständige Sekretär der IG-Metall, findet es absurd, dass ausgerechnet der Krankenstand immer wieder als Begründung für Überstunden der Mitarbeiter herhalten muss. Ein Teufelskreis, der die Gesundheit der Beschäftigten gefährdet.
Bild: Ein Foto vom “Schwarzen Brett” im Werk der Rathenow-Optik: Rechts ein Brief der Geschäftsführung vom 23.7.2015, in dem sie die Vorwürfe aus einem Artikel der IG-Metallzeitung als “falsch” zurückweist – unter anderem den “zweistelligen Krankenstand”. Direkt links daneben die Arbeitszeitregelung für den Monat Juli, die Samstagsarbeit und zusätzliche Überstunden ankündigt, “aufgrund des nachhaltig hohen Krankenstandes”.
Vor allem Betriebsräte der Industriegewerkschaft Metall haben diese Missstände kritisiert und sind dafür an den Pranger gestellt worden: Lars Buchholz, der den Betrieb seit mehr als drei Jahren betreut, weiß von Fällen zu berichten, in denen aktive Betriebsratsarbeit denunziert wurde: Rundgänge der Betriebsräte und ihre Gespräche mit Kollegen – also die Grundvoraussetzung jeder Betriebsratsarbeit – würden die Arbeitsabläufe und damit den Betriebsfrieden stören. Diesen Vorwurf habe sogar die ehemalige Betriebsratsvorsitzende, die mehr als zehn Jahre lang jede Anfrage der Geschäftsleitung abgenickt hätte, formuliert. Sie gehört immer noch der Betriebsratsmehrheit an. Diese arbeitgebernahe Mehrheit habe 2015 keine einzige Betriebsversammlung einberufen, obwohl eigentlich vier im Jahr gesetzlich vorgeschrieben sind.
Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hoffen nun auf die neue Betriebsvereinbarung, die Anfang dieses Jahres nach „zähen Verhandlungen“, so Lars Buchholz, unterzeichnet wurde. „Die Belastung für unsere Mitarbeiter wird dadurch deutlich gesenkt“, betont Geschäftsführer Günter Schmid gegenüber work-watch, der von Verhandlungen „in sachlicher Atmosphäre“, geprägt von gegenseitigem „Verständnis“ berichtet. Konkrete Zahlen – zum Beispiel zum aktuellen Krankenstand – will er aber nicht nennen – „aus Wettbewerbsgründen“. Der IGM-Sekretär ist skeptischer und angesichts der Vereinbarung „zwiegespalten“. Sie sei zwar besser als die alte, aber würde hinter den Standard anderer Betriebsvereinbarungen in vergleichbaren Unternehmen zurückfallen.
Der amtierende Betriebsratsvorsitz, so der IGM-Sekretär, habe eine „zu harte“ Betriebsvereinbarung mit der Begründung abgelehnt, den Arbeitgeber nicht so sehr einzuschränken, weil sonst der Standort möglicherweise verlagert werde. Der Geschäftsführer hingegen sagte gegenüber work-watch, dass er schon 2014 auf einer Betriebsverbsammlung erklärt habe: „Wir wollen die Standortfrage nicht stellen – brauchen aber eine gewisse Flexibilität der Mitarbeiter“. Das haben wohl einige der Beschäftigten als subtile Drohung verstanden, deren Potential in einer Region mit hoher Arbeitslosigkeit wie der in Rathenow kaum zu unterschätzen ist.
Herausgekommen ist eine Betriebsvereinbarung des „kleineren Übels“: Die wöchentliche Höchstarbeitszeit entspricht nun wenigstens den gesetzlichen Vorgaben und ist auf 48-Stunden begrenzt – obwohl die meisten Mitarbeiter Arbeitsverträge über eine 40 Stunden Woche haben. Die Ankündigung für Samstagsarbeit beträgt „im Regelfall“ drei Tage, kann aber immer noch „aus dringenden betrieblichen Gründen“ in Abstimmung mit dem Betriebsrat unterschritten werden. Einzelne Überstunden in der Woche kann die Geschäftsleitung sowieso kurzfristig anordnen. Als Pferdefuss könnte sich die Regelung um die Obergrenze von 80 Überstunden erweisen: Das Überstundenkonto kann jederzeit ausgeglichen werden und eben nicht nur einmal im Jahr oder im Quartal zu einem festgesetzten Stichtag. So kann diese Obergrenze leicht unterlaufen werden: Findet ein Ausgleich statt, können die jeweiligen Beschäftigten wieder neue Überstunden ansammeln.
Das entspricht dem Anliegen der Geschäftsleitung, die Arbeitszeit weiterhin möglichst „flexibel“ zu gestalten, um auch große Nachfragen zügig bedienen zu können. Und es ist absehbar, dass der Produktionsdruck steigen wird: Der Fielmann-Konzern, dessen Brillen in Rathenow gefertigt werden, kündigt an, 110 neue Filialen aufzubauen, in weitere Länder zu expandieren und neue Märkte zu erschließen.