„Lohnt sich Lidl?“, fragen sich zahlreiche der 200 Beschäftigten im Lager des Einzelhandelskonzern in Herne. Und nicht nur da. Vermutlich haben sich viele von den etwa 100.000Beschäftigten des Unternehmens in Deutschland diese Frage schon einmal gestellt.
Vielleicht hat das damit zu tun, dass der Konzern seine Niederlassungen weitgehend ohne Betriebsräte betreibt. 39 Lager oder Verteilzentren sorgen bundesweit für die Belieferung der mehr als 3000 Filialen. Nur in 4 dieser Verteilzentren werden die Beschäftigten von einem Betriebsrat unterstützt. Beim Rest: gähnende Leere, was die gesetzliche Interessenvertretung der Belegschaft betrifft. Und in den Filialen: überhaupt kein Betriebsrat. Nirgends.
Wenn man weiß, dass in Betrieben ohne Betriebsrat die Löhne meist niedriger, die Arbeitsbedingungen schlechter und das Betriebsklima unangenehmer ist als in Betrieben mit Betriebsrat, dann kann die Frage, ob sich Lidl lohnt, für die Lidl-Beschäftigten also mit einem „nicht wirklich“ beantwortet werden.
Der Eigentümer des Konzerns, Dieter Schwarz, wird die Frage anders beantworten: Ja, für ihn lohnt sich Lidl. Er ist der reichste Mann Deutschlands mit etwa 40 Milliarden Euro Vermögen.
Bossing gegen den Betriebsrat
Damit auch das Lager in Herne seinen Beitrag für mehr Profit von Schwarz und Freunden leistet und die Beschäftigten keinen höheren Anteil vom Umsatz bekommen, versucht der in Herne 2022 neu installierte Geschäftsführer Abdelaziz Bouchkhachakh den existierenden Betriebsrat zu liquidieren. Der nämlich will das Gegenteil: ein klein bisschen mehr vom großen Kuchen für die Belegschaft – entsprechend den gesetzlichen Vorgaben und Möglichkeiten.
Dazu gehören bessere Regelungen für die oft undurchsichtige Vergabe von Überstunden. Dazu gehören bessere Eingruppierungen in die richtigen und das heißt höheren Lohn- und Gehaltsgruppen. Dazu gehören bessere, also arbeitnehmerfreundliche Schichtpläne. Dazu gehört die Mitsprache bei der Urlaubsgestaltung. Dazu gehört das Ende von Beschimpfungen und Bedrohungen von Beschäftigten durch Vorgesetzte. Und nicht zuletzt gehört dazu ein Umzug ins neue Verteilzentrum, bei dem die Interessen der Belegschaft stärker beachtet werden.
Solche Verbesserungen kosten Geld. Das der Belegschaft zwar zusteht, das aber die Geschäftsführung der Belegschaft vorenthalten will. Also blockiert sie die Arbeit des Betriebsrates und macht ihn in der Belegschaft schlecht. Sie geht dabei so professionell zu Werke, dass viele Beschäftigte die bösen Absichten gar nicht durchschauen, sondern dem Gebrüll von Vorgesetzten gegen Betriebsratsmitglieder und Gewerkschafter Beifall klatschen. Auf der letzten Betriebsversammlung wurde sogar der Gewerkschaftsvertreter von Ver.di niedergeschrien. Ein ziemlich pubertärer Versuch, Gewerkschaften aus dem Verteilzentrum Herne herauszuhalten.
Nur lässt sich der Betriebsrat in Herne nicht so leicht einschüchtern. Was macht eine Geschäftsführung in einem solchen Fall?
Sagen wir mal so: andere Geschäftsführungen lassen sich in „Bossing“ schulen oder heuern Anwälte an, die Bossing-Methoden kennen und können und dann geht’s los. Wie? Das steht in einschlägigen Handbüchern des Bossing und wird sogar auf Fortbildungen gelehrt. Typische Methoden sind:
- Betriebsratsmitglieder in der Belegschaft diffamieren, ihnen eigennützige Motive unterschieben, manchmal auch irgendwelche Waren aus dem Betrieb in ihre Tasche schmuggeln und bei der Ausgangskontrolle einen Diebstahl „entdecken“.
- Haltlose Abmahnungen wegen Nichts aussprechen und so die Betroffenen nerven, ärgern, ängstigen.
- Betriebsräte vor der Belegschaft beschuldigen, ihre Arbeit würde den Betrieb kaputt machen und die Arbeitsplätze gefährden.
- Kündigen, fristlos, fristgerecht, egal. Hauptsache, Stress machen und die Betroffenen damit beschäftigen, sich gegen solche Maßnahmen zu wehren, damit sie nicht zu ihrer eigentlichen Arbeit als Betriebsräte kommen.
- Sich Zeugen „kaufen“, die irgendetwas behaupten, was als Kündigungsgrund gegen einen Betriebsrat herhalten kann. Wir von work watch saßen z.B. in einem Seminar einer Arbeitgeberkanzlei, in der der Rechtsanwalt vorschlug, der Arbeitgeber müsse eine Beschäftigte finden, die aussagt, der Betriebsrat habe sie sexuell belästigt. Oder er habe falsche Beschuldigungen gegen einen Mitarbeiter geäußert, weshalb man dann diesen Betriebsrat wegen Störung des Betriebsfriedens oder wegen Verleumdung kündigen könne.
Wer nachlesen möchte was Arbeitgebern und ihren Ratgebern so einfällt beim Bossing (und was Beschäftigte dagegen machen können), der kann das in unserer Broschüre nachlesen: https://www.work-watch.de/2016/11/neue-broschuere-tun-wenn-der-chef-mobbt/.
Kündigungsversuche gegen den Vorsitzenden
Zurück zu Lidl Herne und zum Betriebsrat bzw. zu dessen Vorsitzenden. Der stand kurz vor Weihnachten mal wieder vor Gericht, weil sein Arbeitgeber ihn rausschmeißen wollte. Der Vorwurf: er habe einen Kollegen diffamiert und versucht, eine Mitarbeiterin anzustiften, damit auch sie diesen Kollegen anschwärzt.
Das behauptet jedenfalls der Geschäftsführer in seinem bereits dritten Kündigungsversuch gegen den Betriebsratsvorsitzenden. Das Betriebsratsgremium hätte der Kündigung zustimmen müssen, damit sie wirksam wird. Hat es aber nicht. Also musste der Geschäftsführer zum Gericht, um die Zustimmung dort einzuholen. Er präsentierte, unterstützt von der kompletten Führungsebene, eine Zeugin, die behauptete, der Betriebsratsvorsitzende hätte ihr gegenüber einen Kollegen beschuldigt, er sei sexuell übergriffig.
Schweres Geschütz. Zum Glück war ein Dritter bei dem Gespräch zwischen der Zeugin, einer Auszubildenden, und dem Betriebsratsvorsitzenden dabei. Der widersprach der Darstellung der Zeugin des Arbeitgebers. Seltsam war von Anfang an: die Zeugin hatte um ein Gespräch beim BRV nachgesucht, um sich über Wahlbeeinflussung des Arbeitgebers und anderer BR-Kandidaten zu beschweren. Da lag die Betriebsratswahl schon vier Monate zurück! Warum jetzt erst? Noch seltsamer: dieselbe Zeugin schwärzte den Betriebsratsvorsitzenden bei ihrem Vorgesetzten an, wusste aber nicht mehr, wann das war. Und am seltsamsten: Erst mehrere Wochen, nachdem der Arbeitgeber von den Behauptungen der Zeugin informiert wurde, kündigte er dem Betriebsratsvorsitzenden.
Wenn alles so lange dauert bei Lidl, würden das leere Bananenregal in Ihrer Filiale wahrscheinlich erst eine Woche später wieder aufgefüllt werden. Das Gesetz sagt: wenn ein Arbeitgeber von einer Verfehlung eines Arbeitnehmers erfährt, die für eine fristlose Kündigung reicht, muss er ihn innerhalb von zwei Wochen auch tatsächlich kündigen.
Der Arbeitgeber ist bei Gericht mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Sein Kündigungsbegehren wurde zurückgewiesen. Nach der Verhandlung verließen der Geschäftsführer mit seiner Führungsriege, sein Anwalt und die Zeugin gemeinsam das Gerichtsgebäude. Die Zeugin würdigte ihre Kolleginnen und Kollegen, die ebenfalls am Eingang standen, keines Blickes.
Dass der Arbeitgeber auch mit seinem dritten Kündigungsbegehren gescheitert ist, wird ihn nicht weiter stören, er wird vermutlich nachlegen. Arbeitgeber, die sich dem Bossing verschrieben haben, müssen nämlich gar nicht vor Gericht gewinnen, sie wollen nerven, ärgern, ängstigen. Und hoffen, dass die angegriffenen Beschäftigten irgendwann das Handtuch werfen, sich abfinden lassen oder krank den Betrieb verlassen.
Wird das bei Lidl Herne auch so werden?
Nicht uninteressant ist, dass Geschäftsführer Bouchkhachakh an seinem früheren Arbeitsplatz die Auflösung bzw. Zerschlagung des dortigen Betriebsrats miterlebt hat. Vielleicht mitgestaltet hat? Lidl, wie gesagt, hat kaum Betriebsräte in seinen Filialen. In Kamp-Lintfort, dem letzten Arbeitsplatz von Bouchkhachakh gab es einen. Nach dessen Auflösung 2022 wechselte Bouchkhachakh nach Herne.
Was sagt Lidl?
Wir haben den Personalleiter von Lidl, Tobias Eßlage, angeschrieben. Als Mitglied im Kirchenvorstand einer Evangelischen Gemeinde vertritt er, so haben wir unterstellt, die Position der Evangelischen Kirche zu den Rechten von Arbeitnehmern. Sie sagt, dass Arbeitgeber die Rechte der Arbeitnehmer achten sollen und ihre Würde zu bewahren haben.
Wir haben in unserem Brief ein Zitat aus einer Denkschrift der EKD, der Evangelischen Kirche Deutschlands, aufgeführt: „Das Eintreten für den Gedanken der Mitbestimmung von Arbeitnehmern als Oberbegriff für unterschiedlich weitreichende Rechte der Partizipation an Entscheidungsprozessen in den Bereichen der Unternehmen, der Betriebe und am Arbeitsplatz bezeichnet ein grundlegendes Element der theologischen Sozialethik. (…) Es ist die Grundauffassung der evangelischen Kirche, dass ein aktives Mitwirken und ein Engagement auf dieser Ebene wesentlich zu einem christlich geprägten Arbeitsethos gehört – sowohl für Arbeitnehmer wie auch für Arbeitgeber.“
Daran gemessen sind die Maßnahmen von Lidl in Herne unmoralisch und unchristlich.
Herr Eßlage hat sich leider nicht auf unseren Brief zurückgemeldet.
Aber immerhin hat die Geschäftsführung geantwortet, der wir folgende Fragen gestellt haben:
„1.) Sie haben bereits mehrfach versucht, den Betriebsratsvorsitzenden und seinen Stellvertreter zu kündigen. Diese Versuche sind bislang gescheitert. Bitte erläutern Sie uns Ihre Motivation für die zurückliegenden Kündigungsbegehren.
2.) Auf Betriebsversammlungen wurden nach unseren Informationen Störversuche und sogar das Niederschreien von Betriebsratsmitgliedern und Gewerkschaftsvertretern durch Leitungskräfte Ihres Unternehmens choreografiert. Wie stellt sich in Ihren Augen der Sachverhalt dar?
3.) Angeblich blockiert die Geschäftsführung Verhandlungen über einen sozial ausgewogenen Umzug der Belegschaft in das neue Verteilzentrum. Wie beurteilen Sie diesen Konflikt?“
Frau Rinneberg, Herr Bouchkhachakh und Herr Pabst mochten auf unsere Fragen allerdings nicht konkret eingehen. Ihr Antwortschreiben bestand aus einem einzigen Satz:
„Wir bitten um Verständnis, dass wir zu laufenden und nicht rechtskräftig abgeschlossenen Gerichtsverfahren keine Stellungnahme abgeben können.“
Nun, sie könnten schon. Wenn sie denn wollten. Vielleicht wissen sie aber, dass ihre Position, wenn sie denn öffentlich wird, nicht so gut ankommt. Das zeigen die Vorgänge in einem anderen Lidl-Verteilzentrum.
Und die machen Mut – jedenfalls allen, die Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit für ein demokratisches Recht und eine Verpflichtung halten: In Augsburg ist vor einigen Jahren eine Lidl-Geschäftsführung jämmerlich gescheitert, als sie den dortigen Betriebsrat mit ähnlichen Methoden wie in Herne liquidieren wollte. Ein wichtiger Grund für den Erfolg der Kolleginnen und Kollegen: die Solidarität nicht nur im Betrieb, sondern auch in der Öffentlichkeit.