„Hier bin ich Mensch, hier kauf ich ein“ lautet der Werbespruch der Drogeriekette dm, der größten in Europa mit ca. 50.000 Beschäftigten allein in Deutschland. Seit ihr Gründer Götz Werner gestorben ist und sein Sohn Christoph den Konzern übernommen hat, setzt es Prügel: nicht auf die Kund*innen, die mit diesem abgewandelten Goethe-Zitat („Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein.“) umgarnt werden, sondern auf Beschäftigte.
Einer von ihnen ist Betriebsratsvorsitzender im größten Verteilzentrum (VZ) des Unternehmens im rheinischen Weilerswist, über 2.000 Beschäftigte arbeiten dort. 2001 wurde hier der erste Betriebsrat der Drogeriekette gewählt. Drei von diesen VZ gibt es, wird in einem VZ für längere Zeit nichts mehr be- und entladen, gibt es in den über 2.000 dm-Filialen nichts mehr zu kaufen.
Bereits mehrfach lief im VZ Weilerswist nichts mehr, für kurze Zeit jedenfalls. Denn die Beschäftigten und ihre Gewerkschaft ver.di erreichen höhere Löhne im Einzelhandel oft nur nach Streiks. Auch die Beschäftigten in Weilerswist haben schon für ein paar Stunden die Arbeit niedergelegt, was große Löcher in die Regale vieler Filialen riss. Für den Konzern eine teure Sache.
dm ist zwar nicht tarifgebunden, schließt sich aber den ausgehandelten Tarifen „freiwillig“ an. „Freiwillig“ bedeutet, dass das Unternehmen seinen Beschäftigten die ausgehandelten Erhöhungen in der Regel zahlt, allerdings ohne tarifvertraglich dazu verpflichtet zu sein. Weil er sich aus dieser Freiwilligkeit auch wieder verabschieden kann, ist das Ganze für die Beschäftigten eine unsichere Sache. Lohnerhöhungen bei dm riechen deshalb ein wenig nach mittelalterlicher Gnade, die der Herr seinen Untergebenen auch wieder entziehen kann…
Der Betriebsratsvorsitzende in Weilerswist Michael Betke ist eher für verbriefte Rechte seiner Kolleg*innen und setzt sich deshalb dafür ein, auch dm in die Tarifbindung zu bekommen.
Betriebsratsarbeit mit Haltung
Sich einsetzen – das gilt für die ganze Arbeit des Betriebsrats im VZ Weilerswist, jedenfalls für die Mehrheitsfraktion. Dreizehn Mitglieder gehören ihr an, sechs Mitglieder kuscheln lieber mit dem Arbeitgeber oder schweigen. Eine stabile Mehrheit also, um Arbeitnehmerrechte konsequent durchzusetzen. Weshalb dort auch einiges besser ist als in anderen VZ oder Filialen der Drogeriekette. Gehaltsunterschiede für die gleiche Arbeit von früher bis zu fünfzig Prozent wurden auf höchstens zwölf Prozent zurückgefahren, Eingruppierungen wurden angehoben, höhere Überstundenzuschläge und eine transparente und im Sinne der Beschäftigten flexiblere Schichtplanung durchgesetzt.
Gewerkschaftliche Kampfbereitschaft, Durchsetzungsfähigkeit, Selbstbewusstsein: das scheint zu viel Gegenwind für einen Konzernchef, der sein Handwerk in den USA gelernt hat und seit ein paar Jahren das Unternehmen mit harter Hand umbauen will. In Weilerswist sieht das so aus: Auf „Dialogveranstaltungen“, die ein bis zwei Mal im Jahr von der Geschäftsführung einberufen werden, schüren leitende Angestellte Angst vor Standortschließung, die Beschäftigten in Weilerswist seien zu teuer und zu häufig krank. Sogar zu gegenseitiger Bespitzelung und Denunziation wird dort ermuntert, möglicherweise habe sich ja dieser Kollege oder jene Kollegin zu Unrecht krankschreiben lassen…
Vor der Kündigung von Kranken wird ohnehin nicht zurückgeschreckt, auch von langjährig Beschäftigten. Aus Angst trauen sich viele Beschäftigte deshalb nicht mehr, sich krankzumelden, zitiert der Kölner Stadtanzeiger einen dm-Mitarbeiter aus Weilerswist anlässlich eines Arbeitsgerichtsprozesses im April. Auch in anderen Verteilzentren – etwa in Waghäusel bei Karlsruhe – kam es zu krankheitsbedingten Kündigungen, die von Arbeitsgerichten wieder einkassiert wurden, wie der Südwestfunk berichtete.
In Weilerswist hat sich die Geschäftsführung mit Hilfe ihrer Anwälte zusätzlich auf den Betriebsrat eingeschossen: verpflichtende Informationen unterbleiben und müssen von den gewählten Vertretern eingeklagt werden, Mitbestimmungsrechte werden verweigert und müssen ebenfalls gerichtlich eingefordert werden. Das kostet Zeit, nervt und bindet viel Kraft. Ver.di-Sekretär Özcan Özdemir berichtete den Badischen Neuesten Nachrichten in Karlsruhe (dort sitzt die dm-Zentrale): „Sie stellen sich als bester Arbeitgeber hin, haben vor Ort aber eine Angstkultur geschaffen, die ich selbst erlebt habe.“ Bei einem Termin mit dem Betriebsrat sei er aufgefordert worden, das Haus zu verlassen – „damals war ich sogar noch Aufsichtsratsmitglied bei dm.“
So etwas gehört zu einem System, das sich Betriebsrats-Bossing nennt. Gemeint ist die bewusste Behinderung und wenn möglich Zerstörung von selbstbewusster Betriebsratsarbeit.
Mit der fünften Fristlosen…
In Weilerswist nimmt das mittlerweile groteske Züge an. Der Betriebsratsvorsitzende Michael Betke wurde im Juli 2024 fristlos gekündigt, zum fünften Mal seit April 2023. Die vier zurückliegenden Versuche wurden eine nach der anderen vom Arbeitsgericht kassiert, die Begründungen waren unhaltbar, aus der Luft gegriffen, konstruiert, sie waren weniger wert als der Dreck unter dem Fingernagel eines Logistikarbeiters.
Mit der fünften Fristlosen setzte dm noch einen drauf. Der Vorwurf: Betke habe sich sein neues Diensthandy unberechtigt angeeignet – dabei hatte er es nur mehrere Monate lang nicht in Betrieb genommen. Ein Kündigungsgrund? Obwohl der Betriebsratsvorsitzende dieses Handy längst wieder unversehrt zurückgegeben hat!? Starker Tobak. Und noch dreister: Der Betrieb stellte die Gehaltszahlungen an den Betriebsratsvorsitzenden ein und strich ihn von der Personalliste. Sollte Betke endlich mürbe werden, wenn nötig, indem er in die Privatinsolvenz rasselt? Wo kein Gehalt kommt, kann kein Kredit bedient werden, keine monatliche Zahlungsverpflichtung geleistet werden. Das Jobcenter, bei dem sich der Kollege direkt gemeldet hat, nachdem der Lohn ausblieb, verhängte dann auch noch eine dreimonatige Sperrzeit. „Fristlose Kündigung?“, wird sich der Sachbearbeiter gedacht haben, „da bist du doch selber schuld, Alter“. Dass ein mehr als erfolgversprechendes Kündigungsschutzverfahren anhängig war, weil ein Betriebsrat fristlos gar nicht gekündigt werden darf, hat den Mann vom Jobcenter anscheinend gar nicht interessiert oder er hat die Zusammenhänge nicht verstanden.
Die für derartige Verfahren von dm beauftragte Un-Rechtskanzlei Gleiss-Lutz hat die Zusammenhänge vermutlich schon verstanden. Sie ist auch in anderen Betrieben aufgefallen, wie sie mit groben Mitteln aktive Betriebsräte aus dem Amt und dem Job zu jagen versucht hat. Bei dm geht sie erneut deutlich über die Grenze des rechtlich Erlaubten und achtet den Kündigungsschutz eines Betriebsratsmitglieds nicht. Was diese Sorte Anwälte allerdings nicht wirklich interessiert. Verlorene Kündigungsschutzverfahren jucken sie wenig. Der ins Visier Genommenen soll fertig gemacht werden, damit er irgendwann selber das Handtuch wirft. Operation gelungen, Patient tot. Oder wenn nicht tot, dann wenigstens nicht mehr auf Arbeit.
… wieder gescheitert
Am 30. August verhandelte das Arbeitsgericht Bonn in einer Güteverhandlung die einstweilige Verfügung von Michael Betke auf Fortzahlung seiner Bezüge. Nachdem der Richter zu erkennen gab, dass die vorausgegangene fristlose Kündigung im Hauptsacheverfahren keinen Bestand haben werde, stellte sich die Verweigerung der Gehaltszahlung als rechtlich haltlos dar. Die Rechtsanwältin von Gleiss-Lutz hätte sich zwar dem vom Gericht Vergleich verweigern können, in dem die Weiterzahlung des Gehalts vorgeschlagen wurde und auf Zeit spielen können – aber der Imageschaden wäre dann noch größer gewesen. Aushungern eines missliebigen Betriebsratsvorsitzenden, obwohl dessen fristlose Kündigung bereits vom Gericht als nicht rechtens erklärt wurde? Im Beisein von Presse und etwa dreißig Zuhörer*innen aus dem Betrieb keine so tolle Taktik.
Nach vierstündigem Hin und Her willigte die Rechtsanwältin von Gleiss-Lutz schließlich in einen nur leicht abgewandelten Vergleichsvorschlag ein, der die nächste Niederlage für dm bei ihrem Kündigungshindernislauf besiegelte: ab sofort zahlt das Unternehmen Michael Betkes volles Gehalt weiter. Der Betriebsratsvorsitzende wertete das als Angebot, sein Arbeitsverhältnis fortzusetzen und nahm es an, was im Vergleich schriftlich festgehalten wurde.
Nach dem Ende der Verhandlung jubelten draußen über die Kolleg*innen von Michael, die die Verhandlung genauestens verfolgt hatten. Die äußerst trickreichen und schier endlosen Ausführungen der Rechtsanwältin vor Gericht haben ihren Eindruck nur bestätigt, hier soll einer von ihnen eingeschüchtert werden, damit der Rest nicht mehr auf die Idee kommt, gegen die Attacken des Arbeitgebers im VZ Weilerswist aufzubegehren.
dm ist „beliebtester Arbeitgeber“ im deutschen Einzelhandel? „Hier bin ich Mensch…“? Solche Behauptungen stehen in krassem Widerspruch zu den Versuchen, missliebige oder erkrankte Arbeitnehmer mit unlauteren Methoden zu kündigen und einen aktiven Betriebsratsvorsitzenden aus Amt und Job zu jagen. Auch wenn das Arbeitsgericht Bonn in diesem Fall eine deutliche Grenze gezogen hat: zu befürchten steht, dass dies nicht der letzte Versuch von dm und seiner Unrechtskanzlei gewesen ist, missliebige oder „überflüssige“ Mitarbeiter*innen loszuwerden.
Es sei denn, Christoph Werner und seinem Miteigentümer wird klar, dass das Betriebsräte-Jagen und Kranke Rausschmeißen höchst geschäftsschädigend ist, weil die Kund*innen eins und eins zusammenzählen können und ihnen die warmen dm-Werbesprüche schal werden.