4.000 Menschen arbeiten für Dr. Wolfgang Palm, Inhaber und Geschäftsführer der Firma Palm. In 34 Werken haben sie 1,4 Milliarden Euro erwirtschaftet.
Anfang November hat der Inhaber die „Wellpappe Gelsenkirchen“ geschlossen. Vor 30 Jahren hat er sie mit öffentlichen Zuschüssen übernommen. Die Schwäbische Zeitung zitiert Wolfgang Palm, das Ende sei ein „herber Schlag“ gewesen.
Wie es scheint, nicht für ihn. Denn man habe, „in den vergangenen zehn Jahren ein stürmisches Wachstum von stolzen 84 Prozent hingelegt, 2016 sei der Umsatz um vier Prozent gestiegen, die Wettbewerbsfähigkeit und Krisenfestigkeit wurden deutlich ausgebaut.“ So äußerte sich Palm bei einer Feier seiner Zentrale in Aalen-Unterkochen, auf der er 13 „Arbeitsjubilare“ ehrte. Im Durchschnitt hat jeder von ihnen 25 Jahre Herrn Palm gedient. Von den 96 Beschäftigten seines vier Wochen zuvor geschlossenen Werkes sind viele ihr ganzes Arbeitsleben dort tätig gewesen, also 30, 35, sogar über 40 Jahre. Von ihnen allerdings wurde niemand geehrt, weder in Aalen-Unterkochen noch in Gelsenkirchen. Weihnachtsgeld haben sie auch keines mehr erhalten. Obwohl Palm 440 Millionen Euro im letzten Jahr in seine Unternehmen investiert hat.
Wolfgang Palm ist Träger des Bundesverdienstkreuzes, war Mitglied im Vorstand des BDI, des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, und stellvertretender Vorsitzender des VDP, des Verbandes Deutscher Papierfabriken. Ein Mann also, der viel gewonnen hat, der aber auch viel zu verlieren hat.
Umso unverständlicher ist, auf welch rabiate, vielleicht sogar ungesetzliche Weise sich Palm der Belegschaft in Gelsenkirchen entledigt hat. Es gibt gar keine persönliche und nur eine einzige schriftliche Begründung von ihm in einem Interview der Schwäbischen Zeitung, von dem die Mitarbeiter auf Umwegen erfahren haben. Zu diesem Interview, das drei Wochen später stattfand, gleich noch mehr.
Erst einmal fanden die Beschäftigten am Montag, den 31. Oktober – das war ein sogenannter Brückentag zwischen dem Sonntag und dem Feiertag „Allerheiligen“ – einen Brief in ihren Briefkästen vor, überbracht von einem Boten. Der hatte einen Zettel draußen an den Kasten geklebt, drinnen liege ein wichtiges Schreiben ihres Arbeitgebers. Das Schreiben erklärte ihnen lapidar, sie bräuchten am 2. November nicht mehr zur Arbeit erscheinen, sie seien „widerruflich freigestellt“. Es sei Insolvenz angemeldet. Wer noch persönliche Dinge in der Firma habe, solle beim Werksschutz vorsprechen.
Diese Art, 96 Menschen kurz vor Weihnachten ohne jede Vorwarnung und von einem Tag auf den anderen um Lohn und Brot zu bringen, ist schon für sich genommen nichts, was mit Anstand, Moral oder auch nur unternehmerischer Verantwortung zu tun hat. Auf diese Weise jagt man nicht einmal einen Hund vom Hof. Aber es kommt noch heftiger:
Mit der Formulierung „widerruflich freigestellt“ nämlich hat es eine besondere Bewandtnis. Wer „widerruflich freigestellt“ ist, ist nicht arbeitslos und kann kein Arbeitslosengeld beantragen. Er befindet sich noch in seinem alten Arbeitsverhältnis, wenn auch ohne jede Bezüge. Das Einzige, was einem derart „Freigestellten“ bleibt, ist Konkursausfallgeld zu beantragen. Das zahlt die Arbeitsagentur. Aber nur, wenn der Insolvenzantragsteller, also Palm, sich mit seiner Unterschrift dazu bereit erklärt, dass die Arbeitsagentur in Vorleistung tritt. Genau das hat Palm verweigert.
Der ausgezeichnete Unternehmer Palm hat also durch zwei ganz bewusste Entscheidungen verhindert, dass die von ihm auf die Straße geworfenen Beschäftigten von irgendeiner Stelle weiter Einkommen beziehen konnten. Mit dramatischen Folgen, das muss man nicht im Einzelnen erläutern. Nur weil die Stadt Gelsenkirchen, sicherlich ärmer als die Familie Palm, die Auszahlung des Konkursausfallgeldes übernommen hat, konnte das Schlimmste für die Betroffenen verhindert werden.
Palm hat nicht begründet, warum er das getan hat. Er hat allerdings in der Schwäbischen Zeitung im schon erwähnten Interview angedeutet, was seine Beweggründe gewesen sein könnten. Ausschlaggebend für die Stillegung des Werkes sei „die geringe Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter“ und „die geringe Arbeitsmoral“, so gibt die Zeitung das Gespräch mit ihm wieder.
Um eine derart heftige Diffamierung einer ganzen Belegschaft zu verstehen, die seit 30 Jahren für Palm arbeitet, sollte man zwei Fakten kennen. Der eine Fakt: die „Wellpappe Gelsenkirchen“ hat einen Tarifvertrag über eine 35-Stundenwoche, damals erkämpft von der IG Druck und Papier bzw. von der Gewerkschaft ver.di. Alle anderen Firmen der Palm-Gruppe haben einen schlechteren Tarifvertrag, abgeschlossen mit der IG BCE. Der andere Fakt: Die Beschäftigten in Gelsenkirchen haben von 2005 bis 2014 unentgeltliche Überstunden gemacht, zweieinhalb bis drei pro Woche. Gegen das Versprechen, die Arbeitsplätze zu halten. Sie haben im Durchschnitt pro Person in diesen Jahren 20.000 bis 30.000 Euro an unentgeltlichen Überstunden geleistet. Bei knapp 100 Beschäftigten sind das 2 bis 3 Millionen Euro, die die „faule“ Belegschaft Palm geschenkt hat.
Aber zu Kreuze gekrochen sind die Mitarbeiter in Gelsenkirchen nie. Als Palm sich Ende 2015 weigerte, einen neuen Sanierungstarifvertrag abzuschließen (er wollte zwar wieder unbezahlte Überstunden kassieren, aber nicht mehr auf betriebsbedingte Kündigungen verzichten), arbeiteten sie wieder ihre 35 Stunden pro Woche und der Betriebsrat ließ sich jeden einzelnen Antrag auf Überstunden vorlegen. Die Belegschaft weigerte sich auch, freiwillig auf ihren Tarifvertrag zu verzichten und ihre Gewerkschaft ver.di zu verlassen. Palm forderte von ihnen, sie sollten in die IG BCE übertreten. Von der bis heute übrigens jede Form von Solidarität für die Entlassenen ausgeblieben ist. Aber schließlich erklärten sie sich sogar zu diesem Schritt bereit und wollten der IG BCE beitreten, um auf diese Weise eine Beschäftigungssicherung zu erreichen. Nun lehnte Palm ihr Entgegenkommen ab.
Hat Palm also 96 Menschen deshalb ohne jede Schamfrist vom Hof gejagt und auch noch nachträglich versucht sie auszuhungern, weil er sich an einer widerständigen Belegschaft rächen wollte? Oder hatte er nur schlechte Berater, die ihn zu diesen Attacken getrieben haben? Oder ist ihm gar nicht bewusst, was er da angestellt hat und wie sehr solche feudalistischen Verhaltensweisen seinem Ruf schaden?
Ob sein Verhalten darüberhinaus kriminelle Seiten hat, wird in den kommenden Wochen die Staatsanwaltschaft zu entscheiden haben. Strafanträge jedenfalls sind eingereicht, u.a. wegen Verdachts auf eine bewusst herbeigeführte Insolvenz. Strafanträge wegen Lohnraub sind nicht gestellt, Lohnraub steht in Deutschland nicht unter Strafe.
Seit dem 3. November halten Beschäftigte vor dem Werkstor eine Mahnwache ab, mit der sie gleichzeitig verhindern wollen, dass weitere wertvolle Werkzeuge und Maschinen vom Eigentümer abtransportiert werden und damit die Insolvenzmasse verringert wird. Am Wochenende vor der Betriebsschließung hat Palm genau das getan und teure Werkzeuge aus dem Unternehmen wegschaffen lassen. Der Aus-Gezeichnete Mann ist sich selbst dafür nicht zu schade.